Verhaftungen und Ermittlungen
Zwar hatten mehrere Behörden das Recht, Verhaftungen vorzunehmen, aber seit den 1930er Jahren spielten die Staatssicherheitsorgane eine immer größere Rolle. Es entstand eine Verhaftungsmaschinerie.
Als Begründung für die exzessiven Verhaftungen dienten vor allem Stalins Doktrin der Verschärfung des Klassenkampfes beim Aufbau des Sozialismus und die „Bedrohung der UdSSR durch äußere Feinde“. Die Staatssicherheitsorgane unterlagen keinerlei Kontrolle. Von den Repressionen blieb kein Teil der sowjetischen Bevölkerung verschont. Inhaftiert wurde nicht nur bei tatsächlichen oder vermeintlichen Straftaten; bereits die Zugehörigkeit zu einer angeblich feindlichen sozialen Gruppe oder Nationalität reichte aus. Selbst Parteifunktionäre oder Mitarbeiter der Geheimpolizei wurden verhaftet. Die Festnahmen in den Massenoperationen des „Großen Terrors“ von 1937/38 folgten Zahlenvorgaben der politischen Führung. Ermittlungstätigkeit fand selten statt. Das Geständnis der Opfer galt als absoluter Beweis und hatte oberste Priorität. Zwischen 1937 und 1939 war die Ausübung „körperlichen Drucks“ auf Gefangene zur Erlangung eines Geständnisses durch Stalin legitimiert. Davor und danach war Folter zwar nicht legal, wurde aber auch kaum geahndet.
Auf welcher Grundlage verhaftete das NKWD Bevölkerungsgruppen?
Summarische Vorgaben des NKWD
Summarische Vorgaben des NKWD für die Erschießung (Kategorie I) und Verhaftung (Kategorie II) von „antisowjetischen Elementen“, unterzeichnet von Stalin und anderen Mitgliedern des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU (B), 1938.
Die großen Verhaftungswellen der 1930er Jahre folgten den Operativen Befehlen des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD), in denen festgelegt wurde – im Vorhinein und unabhängig von einem tatsächlichen Verbrechen – welche Bevölkerungsgruppen, in welcher Anzahl, zu welchem Zeitpunkt als Staatsfeinde zu verhaften sind.
Quelle: Russisches Staatsarchiv für sozial-politische Geschichte, Moskau
Übersetzung zum NKWD-Beschlussentwurf
Über antisowjetische Elemente
Beschlussentwurf für das ZK der KPdSU (B)
a) Die Empfehlung des NKWD der UdSSR ist anzunehmen, ein zusätzliches Kontingent an ehemaligen Kulaken, Kriminellen und aktiven antisowjetischen Elementen zu genehmigen, die Repressionen zu unterwerfen sind. Das gilt für folgende Regionen, Gebiete und Republiken:
1) | Armenische SSR | 1000 | und 1000 Personen für die 2. Kat. | ||||
2) | Belorussische SSR | 1500 | -“- | -“- | |||
3) | Ukrainische SSR | 6000 | -“- | -“- | |||
4) | Georgische SSR | 1500 | -“- | -“- | |||
5) | Aserbajdschan. SSR | 2000 | -“- | -“- | |||
6) | Turkmenische SSR | 1000 | -“- | -“- | |||
7) | Kirgisische SSR | 500 | -“- | -“- | |||
8) | Tadschikische SSR | 1000 | -“- | -“- | und 500 Personen für die 2. Kat. | ||
9) | Usbekische SSR | 2000 | -“- | -“- | 500 | ||
10) | Region Fernost | 8000 | -“- | -“- | 2000 | -“- | -“- |
11) | Gebiet Tschita | 1500 | -“- | -“- | 500 | -“- | -“- |
12) | Burjat.-Mongol. ASSR | 500 | -“- | -“- | |||
13) | Gebiet Irkutsk | 3000 | -“- | -“- | 500 | -“- | -“- |
14) | Region Krasnojarsk | 1500 | -“- | -“- | 500 | -“- | -“- |
15) | Gebiet Nowosibirsk | 1000 | -“- | -“- | |||
16) | Gebiet Omsk | 3000 | -“- | -“- | 2000 | -“- | -“- |
17) | Region Altaj | 2000 | 1000 | -“- | -“- | ||
18) | Gebiet Leningrad | 3000 | -“- | -“- | |||
19) | Karelische ASSR | 500 | -“- | -“- | 200 | -“- | -“- |
20) | Gebiet Kalinin | 1500 | -“- | -“- | 500 | -“- | -“- |
21) | Gebiet Moskau | 4000 | -“- | -“- | |||
22) | Gebiet Swerdlowsk | 2000 |
b) Dem NKWD der UdSSR wird empfohlen, die gesamte Operation in den oben genannten Gebieten, Regionen und Republiken spätestens bis zum 15. März 1938 abzuschließen, und in der Region Fernost spätestens bis zum 1. April 1938.
c) Dem vorliegenden Beschluss entsprechend ist die Arbeit der Troikas an den Verfahren gegen ehemalige Kulaken, Kriminelle und antisowjetische Elemente in den Gebieten, Regionen und Republiken zu verlängern, die unter Punkt ‚a‘ angeführt sind.
In allen übrigen Regionen, Gebieten und Republiken ist die Arbeit der Troikas spätestens am 15. Februar 1938 zu beenden, um bis zu diesem Zeitpunkt alle Verfahren in dem für diese Regionen, Gebiete und Republiken vorgesehenen Rahmen zum Abschluss zu bringen.
… Jeschow – alles
An die angeführten Gebietskomitees, Regionalkomitees, a, b, c (1. Abs.), chiffriert (entspr.)an die übrigen (nicht genannten) Gebietskomitees Punkt c, 2. Abs. (chiffr.)[Schrägstehender handschriftlicher Vermerk:] Akte: Antisowjet. Elem., Kulaken
[Stempel]
Gedruckt – 4, 2…. Ex.
Versandt – 1, 2…. Ex.
Übergeben in ? 3.... Ex.
Zusätzlich versandt
Gen.
Untersuchungshaft
Der Festnahme folgte die Einweisung in eines der zahlreichen sowjetischen Untersuchungsgefängnisse.
Die Haftbedingungen waren abhängig vom jeweiligen Gefängnis, vom Jahr der Verhaftung sowie vom Verhalten des Aufsichtspersonals und der Mitgefangenen. In den 1930er Jahren waren die Gefängnisse hoffnungslos überfüllt. Der Kontakt zu Angehörigen wurde erschwert oder unterbunden. Die Gefangenen wussten nicht, wie die Anklage lautete, wann die Verhöre beginnen würden und oft nicht einmal, wo genau sie waren.
Wohin wurden die Gefangenen nach der Verhaftung gebracht?
Butyrka-Gefängnis
Im Innern des Butyrka-Gefängnisses, 1937.
Auf der linken Wand steht: „Bereinige dein Gewissen, vergiss nicht, dass früher oder später das Verbrechen aufgeklärt wird“. Das Butyrka-Gefängnis gehört zu den ältesten Moskauer Gefängnissen. Nach der Oktoberrevolution war das Gebäude sowohl Untersuchungsgefängnis als auch Ausgangspunkt für die Deportation in die Lager der Gulag.
Quelle: Sammlung „Memorial“, Moskau
Lefortowo-Gefängnis
Zelle für höhere Partei- und Staatsfunktionäre des Gefängnisses "Matrosskaja Tischina" in Moskau, 1950er Jahre.
Die Zellen der Gefängnisse waren insbesondere in den 1930er Jahren fast immer überbelegt. In einer Einzelzelle waren drei bis vier Personen untergebracht; in einer Zelle, die für 25 Insassen ausgelegt war, wurden oft über 70 Personen eingesperrt.
Quelle: Russisches Staatsarchiv für Zeitgeschichte, Moskau
Boris Sintschurin berichtet von seiner Untersuchungshaft
Bericht von Boris Sintschurin
„Die Zelle war bis an den Rand mit Menschen vollgestopft. Statt der normal üblichen 20 Mann befanden sich in dieser Zelle 80 Personen. Sie lagen auf dem blanken, kalten Zementboden, jeweils mit den Füßen am Kopfende des anderen, und wenn einer sich umdrehte, dann mussten sich praktisch alle Zellenbewohner mit umdrehen. Sofern man den Kübel für die Notdurft aufsuchen musste, verlangte einem das eine ziemlich große Virtuosität ab, um nicht auf irgendjemandes Bein oder Kopf zu treten. Die drückende Schwüle, die stickige Luft versetzten viele in Ohnmachtzustände.“
Bericht von Boris Sintschurin, nach 1998.
B. Sintschurin, 1940 im Alter von 20 Jahren zum Tod durch Erschießen verurteilt, Änderung der Strafe in zehn Jahre Lager mit anschließender Verbannung, 1956 Verbannung aufgehoben.
Quelle: Sammlung „Memorial“, Krasnojarsk